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Donnerstag, 11. Februar 2010

Sozialistische Züge

"Die Hartz-IV-Diskussion trägt sozialistische Züge.", so titelt heute die Welt in dem Gastkommentar von Guido Westerwelle. Was ist daran sozialistisch? Dass das Bundesverfassungsgericht dem Staat auferlegt dafür zu sorgen, dass seine Bürger ein menschenwürdiges Leben führen können?

Westwelle stößt wieder in das gleiche Horn:
Was sagt eigentlich die Kellnerin mit zwei Kindern zu Forderungen, jetzt rasch mehr für Hartz IV auszugeben? Wer kellnert, verheiratet ist und zwei Kinder hat, bekommt im Schnitt 109 Euro weniger im Monat, als wenn er oder sie Hartz IV bezöge. Diese Leichtfertigkeit im Umgang mit dem Leistungsgedanken besorgt mich zutiefst. Die Missachtung der Mitte hat System, und sie ist brandgefährlich. Wer dem Volk anstrengungslosen Wohlstand verspricht, lädt zu spätrömischer Dekadenz ein.
Abgesehen davon, dass selbst nach oben korrigierte Regelsätze keinen Wohlstand garantieren können, wird hier wieder auf die Schwächsten der Gesellschaft herumgetrampelt. Warum wird der Mindestlohn nicht erwähnt? Auch sozialistisches Teufelswerk? Wäre es nicht auch dem Leistungsgedanken entsprechend, der genannten Kellnerin einen Mindestlohn zu zahlen? Dadurch könnten die Lohnabstände gewahrt bleiben.

Zu empfehlen kann man den Artikel Hartz IV und der hausgemachte Niedriglohnsektor in der heutigen Telepolis-Ausgabe. Jens Berger schreibt hier u.a.:
Um das notwendige Lohnabstandsgebot zu verwirklichen und gleichzeitig die Transferleistungen auf einem Niveau zu belassen, das eine gesellschaftliche und kulturelle Teilhabe ermöglicht, müssten demnach die Löhne im unteren Einkommensbereich deutlich über dem Transferleistungsniveau liegen. Der derzeit gültige Hartz-IV-Regelleistungssatz entspricht bei einem Einpersonenhaushalt einem virtuellen Stundenlohn von 4,60 Euro. Bei einer Familie mit einem Kind, in der nur ein Elternteil arbeitet, läge der virtuelle Stundenlohn bei rund 6,00 Euro. Einen Mindestlohn zu definieren, der um X Prozent über Hartz IV liegt, ist also nicht möglich, da Hartz-IV-Leistungen immer von der Größe des Haushalts abhängen und es auf dem Arbeitsmarkt nicht möglich ist, den Vater einer dreiköpfigen Familie wesentlich besser zu entlohnen als einen Alleinstehenden. Der Staat kann hier lediglich beim Kindergeld und beim Ehegattensplitting – das in diesem Einkommensbereich jedoch kaum eine Rolle spielt – ein wenig steuernd eingreifen.
Westerwelle spricht vage von einem Kern der geistig-politischen Wende, die er anstrebt und droht "jetzt könne es erst recht keine Entlastung der Bürger mehr geben, das Geld brauche man für höhere Hartz-IV-Sätze". Ist das die Mitte der Gesellschaft, die nun zur Treibjagd auf die "Sozialschmarotzer" bläst?

1 Kommentar:

  1. Als Nachtrag eine kleine Presseschau:

    FDP-Chef Guido Westerwelle hat seine Kritik an der Hartz-IV-Debatte bekräftigt. "Die Diskussion über das Hartz-IV-Urteil des Bundesverfassungsgerichts hat sozialistische Züge. Von meiner Kommentierung dieser Debatte habe ich keine Silbe zurückzunehmen", sagte Westerwelle der "Passauer Neuen Presse".
    "Jetzt lässt Guido Westerwelle die Maske fallen", sagte Verdi-Chef Frank Bsirske derselben Zeitung. Sozialleistungen seien keine Gnadengabe, sondern Verpflichtung eines demokratischen Rechtsstaats, der die Menschenwürde garantiert. Der Vorsitzende des Deutschen Gewerkschaftsbundes (DGB), Michael Sommer, sagte den Dortmunder "Ruhr Nachrichten": "Es ist für einen Vizekanzler unangemessen, Millionen von Hartz-IV-Beziehern so zu diffamieren." Vielmehr wäre es seine Aufgabe, dafür zu sorgen, dass die soziale Balance erhalten bleibe.
    Telepolis: Die Gedankenwelt ist so einfach gestrickt, dass ihre Finten zu leicht durchschaubar sind. Selbst hartgesottene Klassenkämpfer aus der oberen Schicht werden sich damit zunehmend schwer tun. Westerwelle legt nahe, dass Hartz-IV-Empfänger gegenüber Geringverdienern schon jetzt zu viel Geld erhalten. Warum die Zahl der Geringverdiener mit Hartz-IV so angewachsen ist und was sich daran ändern ließe, ist Westerwelle egal. Ebenso egal ist ihm, dass der Leistungsgedanke auch bei den Vermögenden, die ihr Geld auf der Börse vermehren oder im Ausland schützen wollen, missachtet wird.
    Gerade hier hat sich in den letzten Jahren, in denen die normal Arbeitenden Lohnverzicht übten bzw. üben mussten und das Einkommen der Mittelschicht stagnierte, eine wachsende Kluft aufgetan. Während sich Einkommen aus Gewinnen und Vermögen kräftig vermehrt haben, ist der Anteil der Lohnquote weiter gesunken. Vor diesem Hintergrund ergibt Westerwelles forscher Satz: "Wer dem Volk anstrengungslosen Wohlstand verspricht, lädt zu spätrömischer Dekadenz ein", einen deutlich anderen Sinn.
    Süddeutsche Zeitung: Wenn Guido Westerwelle im Zusammenhang mit dem Karlsruher Hartz-Urteil vor "spätrömischer Dekadenz" warnt und "geistigen Sozialismus" beklagt, ist die Grenze von der üblichen Polemik zur blinden Hysterie überschritten. Die FDP versteht im Moment buchstäblich die Welt nicht mehr.
    Spreeblick: Zum Beispiel „Leistung muss sich wieder lohnen“. Das finde ich auch. Ich finde, wer bei diesen Temperaturen mit dem Fahrrad durch die Gegend eumelt, um Briefe zuzustellen, sollte dafür angemessen entlohnt werden. Deswegen Mindestlohn, deswegen Gewerkschaften. Aber Westerwelle hält Mindestlohn für Planwirtschaft. Hat er so gesagt, 2007: „Wenn wir die Löhne künftig vom Staat festsetzen lassen, wie es jetzt durch die Koalition bei der Post geschieht, dann ist mir das zu viel DDR. Das ist Planwirtschaft.“ Also auch Sozialismus. Auch böse. Leistung muss sich zwar wieder lohnen, aber wenn man tatsächlich etwas dafür tun könnte, dass sie sich wieder lohnt, ist das auch Sozialismus.
    BildBlog: Wie sich alle mit Hartz IV verrechnen

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